Neue Erkenntnisse für die Frühförderung in Bremen

Im Land Bremen – und hier zunächst speziell im Rahmen der Frühförderung – ändert sich derzeit einiges durch das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG). In diesem Gesetz wurde zum Beispiel der Behinderungsbegriff neu definiert und setzt heute auch eine Beeinträchtigung am gleichberechtigten Leben in der Gesellschaft voraus.

Neben dem bekannten Klassifizierungssystem für Krankheiten und Behinderungen (ICD) wird für die Feststellung von Teilhabebeeinträchtigungen die sogenannte ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit wichtig. Diese ist ein zentrales Verfahren im BTHG und bildet die Grundlage zur (Hilfe-)Bedarfsermittlung eines Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat sie über viele Jahre in enger Zusammenarbeit mit verschiedensten Fachkräften entwickelt. Mit der ICF soll der individuelle Gesundheitszustand einer Person beschrieben werden, damit besser ausgedrückt werden kann, wie es einem Menschen mit einer Gesundheitsstörung im Alltag geht und ob er/sie Unterstützung benötigt.

Das Ganze ist zwar ein sehr theoretisches Konstrukt, soll jedoch unter anderem dazu führen, dass letztlich eine bessere Einbeziehung der betroffenen Personen in die Hilfeplanung stattfindet. Zentrales Anliegen ist die Arbeit Aller auf Augenhöhe. Es soll keine Hierarchien zwischen einzelnen Fachkräften (z.B. Ärzt*innen, Therapeut*innen, Pädagog*innen) und den hilfebedürftigen Menschen mehr geben. Gemeinsam soll ein Handlungsplan entwickelt werden, wie die Teilhabe im Alltag verbessert werden kann – und dass unter gezielter Berücksichtigung der konkreten Wünsche des/der Hilfeberechtigten.

Klingt dies in vielen Bereichen von Medizin und Pädagogik noch nach Utopie, ist es eine Herangehensweise, die wir in den Therapiezentren von Autismus Bremen e. V. und damit auch in der Frühförderung schon seit vielen Jahren sehr ähnlich praktizieren.

Dennoch ändert sich auch für uns Einiges. So finden sich in der ICF viele neue Begrifflichkeiten, die zunächst einmal kennengelernt und verstanden werden müssen. Auch sind die unterschiedlichen Ebenen, die in der ICF für die Zielformulierung genutzt werden, anders als wir diese bisher gewohnt sind.

Im Rahmen der Frühförderung im Land Bremen wurde in den letzten 1,5 Jahren gemeinsam mit der senatorischen Behörde, dem Gesundheitsamt, der Früherkennungsstelle und den Frühförderstellenleitungen daran gearbeitet, wie diese neuen Methoden und Begrifflichkeiten in die Praxis übertragen werden können. Dieser Prozess mündete in einer neuen Berichtsvorlage, die für unsere Kolleg*innen in der Frühförderung ab dem Spätherbst genutzt werden wird.

Die Besonderheiten der ICF haben Carolin Seifert und Martina Melzer (Leitungen der HpFF Autismus in Bremen Stadt) daher im Rahmen eines Frühförderteamtages am 16.05.2022 den Kolleg*innen der Bremer Frühförderstellen von Autismus Bremen e. V. nähergebracht.

Zu Beginn rauchten noch die Köpfe von all den neuen Begrifflichkeiten und Formulierungen. Nach einigen Stunden der gemeinsamen Erarbeitung und verschiedener Kleingruppenaufgaben, wurden die neuen Inhalte jedoch schon klarer.

Auch der zentrale neue Begriff, der in allen Institutionen der Bremer Frühförderung inzwischen Eingang findet, ist nun bei uns geläufig. LAKMoSHIBeG ist die Abkürzung der Lebensbereiche, die betrachtet werden, um Teilhabebeeinträchtigungen zu ermitteln und Hilfebedarfe festzulegen. Diese sind konkret: Lernen und Wissensanwendung, Allgemeine Aufgaben und Anforderungen, Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, Häusliches Leben, Interpersonelle Aktion und Beziehungen, Bedeutende Lebensbereiche sowie Gemeinschafts-, Soziales und Staatsbürgerliches Leben.

Die neue Berichtsvorlage werden wir in einem zweiten Teamtag Ende September gemeinsam genauer erarbeiten.

Der Anfang ist also gemacht und das Schreckgespenst ICF hat ein wenig von seinem Schrecken eingebüßt. Wir sind gespannt, wie es sich weiterentwickelt und ob die wünschenswerte Arbeit Aller auf Augenhöhe auch von allen beteiligten Institutionen umgesetzt werden kann.