Inklusive Wege in der Pandemie

von Anas Nashef

Nehmen wir die von COVID-19 ausgehenden Gefahren in den Blick, so lassen sich diese allgemein in primäre und in sekundäre Gefahren einteilen. Die primären Gefahren stellen die durch eine Infektion verursachten körperlichen Schäden dar, wie etwa die symptomatischen Erkrankungen, die mitunter schweren Verläufe und die fortdauernd erforschten Spätfolgen, für welche sich inzwischen die Bezeichnung Long Covid etabliert hat. Die sekundären Gefahren beschreiben die mit den Eindämmungsmaßnahmen einhergehenden psychischen Folgen, besonders für Kinder und Jugendliche. Es versteht sich, dass der Fokus auf die primären Gefahren gerichtet wurde, denn im Vordergrund steht zunächst die unmittelbare Gefahr für die physische Unversehrtheit jedes Einzelnen. Die sekundären Gefahren sind jedoch nicht als weniger bedeutsam anzusehen: Sie sind insofern sekundär, als diese durch die eingesetzten erforderlichen Maßnahmen, welche dem physischen Schutz der Bevölkerung dienen, verursacht werden.

Inzwischen liegen – in jeglicher Hinsicht alarmierende – Studienergebnisse zu den sekundären Gefahren für Kinder und Jugendliche vor, so etwa die breit angelegte, Anfang März 2021 im „Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz“ veröffentlichte COPSY-Studie (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Eppendorf in Hamburg (Quelle: www.springer.com/journal/103). So wurden vom 26.05. bis zum 10.06.2020 insgesamt 1586 Eltern mit 7- bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen – von denen 1040 11- bis 17-Jährige auch Selbstangaben machten – befragt: „71 % der Kinder und Jugendlichen und 75 % der Eltern fühlten sich durch die erste Welle der Pandemie belastet. Im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie gaben die Kinder und Jugendlichen eine geminderte Lebensqualität an, der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten hat sich in etwa verdoppelt und ihr Gesundheitsverhalten hat sich verschlechtert. Sozial benachteiligte Kinder erlebten die Belastungen durch die Pandemie besonders stark. Zwei Drittel der Eltern wünschten sich Unterstützung im Umgang mit ihrem Kind.“

Wie ist es aber um Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in diesen ungewohnten Zeiten bestellt? Wie können die Auswirkungen der Maßnahmen und des veränderten Schulalltags auf diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen eingeschätzt werden? Die Therapiesituation stellt einen wichtigen Ort – und in Zeiten der pandemiebedingten Kontaktreduzierung zuweilen den einzigen Ort – des Austausches und der Auseinandersetzung
mit alltäglichen Krisen dar. In diesem Kontext berichten die Klient*innen und deren Eltern von ihren Erfahrungen und ihrem Erleben in Zeiten der Pandemie, worauf wir sowohl für die therapeutische als auch Öffentlichkeitsarbeit zurückgreifen können. So teilen Kinder und Jugendliche mit ASS die negativen Erfahrungen der Isolation mit ihren Gleichaltrigen ohne Autismus. Zunehmend lässt sich im Verlauf der Schutzmaßnahmen – gerade während Verschnaufpausen der Öffnung – ein Anstieg an eine gewisse Passivität konstatieren, so dass die Wiederaktivierung/ das Wieder-in-Aktivität-Kommen vor allem bei Jugendlichen mit Autismus- Spektrum-Störung besonders erschwert zu sein scheint. Autismusspezifisch erweist es sich des Weiteren als besonders herausfordernd, sich immer wieder auf neue Maßnahmen und somit neue Veränderungen einzulassen.

Insgesamt ist ein Virus weder sichtbar noch klar einschätzbar, so dass es in der Gesamtlage allen an Orientierung mangelt und keiner die absolute Orientierung bieten kann. Im Mai dieses Jahres veröffentlichte Prof. Andreas Eckert in Zürich die Ergebnisse einer Studie, bei der über 200 Elternteile zu den Auswirkungen der Pandemie auf ihre Kinder (und auf das Familienleben) befragt wurden. Nach Einschätzung der Eltern wurden folgende Punkte durch die Kinder als besonders herausfordernd erlebt: fehlende Struktur (42 %), familiäre Situation (Geschwister, Eltern als Lehrende) (40 %), fehlende Sozialkontakte (32 %), Selbstständigkeit beim Lernen (Organisation, Motivation) (31%) und ungewohnte Gesamtsituation im Lockdown (25 %).

Bekanntermaßen birgt jede Krise auch eine Chance. Deutlich offenbarte sich diese Chance in Gesprächen mit Menschen mit Autismus, die differenziert und gesellschaftskritisch unmittelbare und künftige positive Effekte der Pandemie zu unterstreichen wussten. So gehen die Maßnahmen mit einer erhöhten Sicherheit für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung einher, in Zeiten des physischen Abstandes nicht von anderen Menschen angefasst zu werden. Es sei auch mit einer verbalen Begrüßung getan, eine Begrüßungsbotschaft sei verbal – und auch nonverbal – übermittelbar, Händeschütteln zur Begrüßung sei somit überflüssig, erst recht engere Körperkontakte wie etwa Umarmung. In Zeiten des Lockdowns, des Homeoffice und des Homeschoolings sind weniger Menschen unterwegs: „Das bedeutet für mich“, so ein Jugendlicher mit Autismus-Spektrum-Störung, „mehr Ruhe, wenn ich außer Haus bin, weniger Reize, es fühlt sich viel entspannter für mich an.“ „Besonders gut fand ich“, beteuerte ein jugendliches Mädchen, „die Begrenzung der Kundenzahl in den Läden und Supermärkten. Das Einkaufen gestaltete sich viel leichter für mich.“ Solche Situationen seien nicht wie sonst angespannt gewesen. Die oben genannte Studie bestätigt diese Eindrücke. Dort wurden die Eltern ebenfalls befragt, was ihr Kind als hilfreich bzw. entlastend erlebt habe: 60 % gaben Ruhe und Entspannung an, 49 % selbstbestimmte Zeit- und Arbeitseinteilung, 37 % Reduktion schulischer Anforderungen und 36 % Reduktion sozialer Anforderungen. Die Krise zwang uns alle, neue Wege zu gehen, Neues zu wagen. So kam die Anwendung der Videotherapie zum Einsatz, die bis zum Ausbruch der Pandemie nicht mal in Erwägung gezogen worden war. Ohne die Grenzen der Videotherapie aus den Augen zu verlieren, bietet diese nicht selten eine sinnvolle Ergänzung zur Vis-à-vis-Therapie. Obgleich nicht alle, so begrüßen dennoch viele Klienten mit ASS dieses Format. Auch altersbedingt zeigen sich viele Jugendliche sicherer in diesem Format, gar kommunikativer. Der Umstand, aus einem sicheren Ort heraus in Kontakt zu treten, trägt ebenfalls zu einer entspannten und somit offenen Interaktion bei. Diese und andere Erkenntnisse während der Pandemie und vor allem die berichteten Erfahrungen aus der Sicht von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sind nicht nur bereichernd als Gedankenspiele, als Lesearten, vielmehr lassen sie sich als Grundlage für die Erweiterung von Handlungsrepertoires verstehen – sei es im persönlichen Umgang, sei es gesellschaftlich oder politisch. Leiten wir daraus mögliche künftige gesellschaftlich-politische Entwürfe ab, so lassen sich folgende Empfehlungen vorschlagen:

1. Flächendeckend Ruhezeiten im öffentlichen Raum, etwa in Supermärkten und die Etablierung von Ruhezonen (z. B. in Schulen)

2. Perspektivische Reduzierung von Klassenstärken

3. Politisch aktives Vorantreiben der Digitalisierung vor allem an Schulen, nicht als Selbstzweck, sondern als eine konzeptionell gut überlegte Perspektive der individualisierten schulischen Gestaltung

4. Ernsthafte Auseinandersetzung statt pauschaler Ablehnung des Homeschoolings

5. Aufnahme von Videokontakten als mögliche/ergänzende Leistung im Rahmen von Leistungsvereinbarungen mit freien Trägern

6. Entschleunigung durch individuelle Lösungen im Schulsystem (z. B. Pausengestaltung; Aufgabenform,-zeit und -ort; mediale Möglichkeiten)

Die andauernde Krise setzt Denkprozesse in Gang und begünstigt die Implementierung von Veränderungen, die sowohl für Menschen mit Autismus als auch ohne Autismus positive Effekte mit sich bringen. Es ist an der Zeit zu handeln oder wie es im Talmud heißt: „Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“

Weitere Vertiefungslektüre:

  • Eckert, A. & Kamm, S. (2021): Schule und Autismus – Was können wir aus der Corona-Krise lernen? Ergebnisse einer Elternbefragung. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik (SZH), 5, 26-32
  • Nashef, A. (2021): Videogestützte Autismustherapie: Implikation, Gestaltung und Wirksamkeit. psychopraxis.neuropraxis: Band 24, Heft 1 (2021), S. 62-69, Springer-Verlag, Wien
  • Nashef, A. (2020): Autismus und Autismustherapie in Zeiten von Corona: Eine Chance?. psychopraxis.neuropraxis: Band 23, Heft 3 (2020), S. 116-120, Springer-Verlag, Wien
  • Preißmann, Chr. (2020): Menschen im Autismusspektrum und die Corona-Pandemie: Erfahrungen, Besonderheiten und Hilfen