Barrierefreier ÖPNV für Menschen mit Autismus

Menschenmassen drängeln sich in den Bus oder die Straßenbahn, das Licht im Fahrzeuginnenraum flackert, Fahrgäste reden durcheinander, jemand schlürft Kaffee: In öffentlichen Verkehrsmitteln kann es hektisch zugehen. Für viele Menschen mit Autismus ist die Nutzung des ÖPNV eine Herausforderung, viele meiden öffentliche Verkehrsmittel.

Autismus besteht in verschiedenen Ausprägungsgraden. Probleme in der Kommunikation und des Vorstellungsvermögens sind die Ursache für wenig Flexibilität im Handeln. Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung kann erst durch frühzeitige Berücksichtigung der Bedürfnisse und Verhaltensweisen autistischer Menschen hergestellt werden.

Welche autistischen Besonderheiten sind bei der Teilhabe am Öffentlichen Nahverkehr besonders betroffen?

Geräuschempfindlichkeit: 70 – 85% der Autisten leiden unter unangenehmen Geräuschen, wie das unerwartete Bellen von Hunden, andauernde Geräusche von elektrischen Motoren oder viele sich überlagernde Geräusche.

Geruchsempfindlichkeit: Mehr als 50% der Autisten haben eine Geruchsempfindlichkeit. Die Ablehnung, Räume wie zum Beispiel Bahnhöfe zu betreten oder in Fahrzeuge einzusteigen, kann eine Reaktion auf Gerüche sein, die neurotypische Menschen im Gegensatz zu autistischen Menschen eventuell nicht bewusst wahrnehmen oder besser ertragen können.

Visuelle Empfindlichkeit: Jeder 5. Autist hat eine Überempfindlichkeit oder eine verzerrte Wahrnehmung gegenüber hellen Beleuchtungen und bestimmten Farben. Das können Leuchtstoffröhren sein, deren Helligkeit und Flackern nervös machen. Ebenso vermeiden Autisten oftmals Sitzplätze in der Sonne oder bei denen man von der Sonne geblendet wird. Auch Lichtreflexionen können verwirrend sein.

Autisten benötigen aufgrund der Proxemik (notwendig empfundene räumliche Distanz) mehr Raum. Sie fühlen sich eingeengt, wenn Menschen ihnen zu nah kommen. Es ist eine großzügige Flächenzuweisung pro Person in der Planung sinnvoll.

Welche Maßnahmen sind sinnvoll, um einen barrierefreien ÖPNV für Autisten herzustellen?

Im November 2021 wurden 22 Befragungen mit Asperger-Autisten und 5 mit Autismusexperten durchgeführt.

Um Stress und Überforderung bei der Benutzung des ÖPNVs zu vermeiden, sind möglichst ruhige und reizarme Umgebungen zu schaffen. Das lässt sich nicht überall umsetzen, von daher sind Rückzugsmöglichkeiten in Bahnhöfen und an Haltestellen und Ruheabteile in Fahrzeugen mit einzuplanen. Beispielsweise könnten Ruhebereiche in Straßenbahnen im vorderen Bereich hinter dem Fahrer und dem ersten Gelenk eingerichtet werden und mit durchsichtigen Trennscheiben hinter den letzten Sitzen abgetrennt, wenn baulich möglich sogar mit einer Tür versehen werden. Auch hier müssten Piktogramme und farbliche Markierungen sowie Durchsagen auf den Ruhebereich hinweisen.

Ein gutes Beispiel für Rückzugsräume wie sie in Bahnhöfen und größeren Stationen angelegt werden könnten, sind die sensory rooms für Autisten im Pittsburgh International Airport. Die sensory rooms sollen Menschen die Möglichkeit geben, sich vom Reisestress zu erholen und zur Ruhe zu kommen. Die reizarmen schallgedämmten Räume, sind mit Beteiligung von Menschen mit Autismus geplant worden. Sanfte Lichteffekte fördern das Wohlbefinden. Geschlossene Sessel und kleinere Räume mit Türen bieten innerhalb des sensory rooms eine weitere Rückzugsmöglichkeit. Der sensory room ist 24 Stunden am Tag geöffnet und kann jederzeit genutzt werden.

Zur Vermeidung von Menschenansammlungen in Fahrzeugen und Bahnhöfen/Haltestellen gibt es verschiedene Möglichkeiten wie z.B. die Taktung zu erhöhen. Damit wird die Auslastung entzerrt und sichergestellt, dass Menschen mit Behinderung einen Sitzplatz und/oder ausreichend Stehplatzkapazität vorfinden. Die Wartezeiten und Menschenansammlungen an den Haltestellen werden reduziert. Mehr durchgehende Verbindungen wie beim Karlsruher Modell machen weniger Umstiege erforderlich und es reduziert sich die Anzahl der Fahrgäste an den Haltestellen. Mehr Zugänge bei Umbau- oder Neubaumaßnahmen sorgen dafür, dass sich die Menschenmassen besser verteilen.

Die Einführung eines Merkzeichen W im Schwerbehindertenausweis soll für Menschen mit Besonderheiten der Wahrnehmung (wie Autismus etc.) gelten, die ruhige und reizarme Umgebungen benötigen z. B. Fahrten in der ersten Klasse oder ein Einzelzimmer im Krankenhaus ermöglichen.

Damit Autisten selbstständig und ohne fremde Hilfe reisen können, wäre eine autistenfreundliche Mobilitätsapp, wie in Melbourne, sinnvoll. Die tramTRACKER App von yarra trams in Melbourne bietet viele nützliche und brauchbare Informationen für Autisten:

  • Reiseinformationen in Echtzeit: Abfahrtszeit an aktueller Haltestelle und Ankunftszeit an Zielhaltestelle, Updates zu Störungen
  • Abfahrtszeit der nächsten 3 folgenden Straßenbahnen
  • Profil des eingesetzten Straßenbahntyps mit Wagennummer,

wichtig für Autisten, die bevorzugte Sitz- oder Stehplätze haben

  • Anzeige der nächstgelegenen Haltestelle oder Haltestellen mit Unterstand auf Stadtplan, auch per GPS
  • Anzeige von Kundencenter und Ticketverkaufsstellen, Sehenswürdigkeiten und wichtigen Einrichtungen
  • Liniennetzpläne
  • Drop down message: Benachrichtigung bei Störungen und geänderten Abläufen
  • my tram: Anzeige der aktuellen Position der genutzten Straßenbahn und voraussichtliche Ankunftszeit, Hinweise für Notfälle
  • Persönlich wichtige Straßenbahnhaltestellen als Favoriten speichern.

Wichtig wären auch eine zusätzliche Besetzgradanzeige und ein Hilfebutton, mit dem man online Hilfe bekommen kann. Übersichtliche Grundrisse, Leitsysteme und Fixpunkte schaffen an Bahnhöfen und Haltestellenanlagen Orientierung, ebenso ein einheitliches Corporate Design der Verkehrsbetriebe. Bei der Raumqualität (Akustik- und Lichtplanung, Farbgestaltung, Materialbeschaffenheit, Haptik, Raumvolumen und Raumform) muss die hyper- oder hypoaktive Wahrnehmung von Autisten berücksichtigt werden.

Es ist unvermeidlich, dass Autisten mit Mitarbeitern der Verkehrsbetriebe in Kontakt treten müssen, beispielsweise bei der Fahrkartenkontrolle. Daher wären Aufklärung und Schulung der Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe empfehlenswert. Der Verein Autismus deutsche Schweiz e.V. hat ein Informationsblatt für SBB-Beschäftigte herausgegeben. Es wird erklärt, was Autismus ist und welche Auffälligkeiten auftreten können. Zudem wird beschrieben, welche Situationen im öffentlichen Verkehr für Menschen mit Autismus schwierig sein können und welche Don’ts (z.B. nicht berühren) oder Do’s (z.B. direkte, kurz und genau formulierte Fragen) es gibt. Das Leitbild des Übereinkommens der Vereinigten Nationen ist die Inklusion. Es wird nicht erwartet, dass Menschen mit Behinderungen sich anpassen müssen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können, sondern es geht darum, dass diese Menschen ein uneingeschränktes und selbstverständliches Recht auf Teilhabe besitzen. Der zentrale Grundsatz der Konvention lautet:

„Nichts über uns ohne uns“. Das bedeutet, dass Menschen mit Autismus- Spektrum-Störung bei der Planung von Maßnahmen für einen barrierefreien ÖPNV mit einbezogen werden müssen, damit dieser entsprechend ihrer Bedürfnisse gestaltet wird und sie ihn ohne fremde Hilfe, ohne besondere Erschwernis in allgemein üblicher Weise, wie im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) vorgeschrieben, nutzen können. Ich möchte mich an dieser Stelle für die freundliche Unterstützung von Autismus Bremen e. V. ganz herzlich bedanken.

(Stephan Dee)