Das Bremer Memorandum für schulische Inklusion wird auch von Autismus Bremen e. V. unterstützt!

Die Inklusion „in Bildung und Politik ins Zentrum rücken“, so wie es das vorliegende Memorandum will: Das ist auch unser Anliegen. Es bedeutet, die Betroffenen ins Zentrum zu rücken. Kinder, die oftmals ausgegrenzt sind, die auch unser Bildungssystem zu lange benachteiligt hat. Ein weiteres Mal. All das soll sich mit der Umsetzung der Inklusion auch in Bremen ändern.

Allerdings klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Die Tatsache, dass hier gut 30 Organisationen, Verbände und Vereine gemeinsam einen neuen Anlauf unternehmen, die Inklusion „ins Zentrum zu rücken“: Diese Tatsache könnte ein stärkeres Signal eben jener Betroffenen kaum sein. Auch Autismus Bremen e.V. unterstützt dieses Bremer Memorandum für schulische Inklusion aus vollem Herzen und mit ganzer Kraft!

Unsere Kinder haben ein Recht auf das gemeinsame Lernen. Sie nicht länger „vom allgemeinen Bildungssystem auszuschließen“: Dazu hat sich Deutschland im Rahmen der UNO-Behindertenrechtskonvention verpflichtet. Bremen hat diese Konvention ratifiziert. Nur: So unmissverständlich ihre Vorgaben sind, so halbherzig werden sie bisher umgesetzt.

Bis heute lernt nur ein Teil der Schüler mit Autismus gemeinsam mit nicht behinderten Schülern. Die Umstellung erfolgt langsam, für viele Betroffene zu langsam. Und die Benachteiligung geht weiter. Warum werden die betroffenen Kinder oft als erste vom Unterricht „freigestellt“ und nach Hause geschickt, wenn es zu Lehrer-Engpässen kommt? Oder wenn die Assistenz krank ausfällt: Muss es wirklich mehrere Tage dauern, bis Ersatzlösungen organisiert sind?

Im Unterricht: Der eine Lehrer lässt den Computer als Hilfsmittel zu, Stichwort Nachteilsausgleich, der nächste nicht. Obwohl betroffene Schüler so tatsächlich ihre Aufgaben adäquat bewältigen. Manch ein Schüler hockt – exklusiv – draußen auf dem Flurboden, weil das – inklusive – Klassenzimmer keinen Differenzierungsraum besitzt, in den sich der Schüler zu einem differenzierten Unterricht zurückziehen kann, um angemessen zu arbeiten.

Das entscheidende Thema aber bleiben die Assistenzkräfte. Warum streicht die Bildungsbehörde immer wieder Assistenzstunden – ausgerechnet beim Schulwechsel, beim Wechsel aus dem vertrauten Umfeld in eine komplett neue Welt? Wer Autisten nur ein wenig kennt, der weiß, dass der Zeitpunkt für weniger Begleitung, weniger Hilfe nicht sinnloser, nicht falscher gewählt sein könnte.

Stichwort „Pooling“: Die Begleitung durch Assistenzkräfte wird „gepoolt“, ein anderes Wort für Mehrfachbetreuung. Begleitet werden zum Teil mehrere Kinder, die sich aber auf unterschiedliche Klassenzimmer in unterschiedlichen Gebäudeteilen verteilen. Das mag im einen Fall funktionieren. Aber im anderen fordert, und manchmal überfordert es, alle Beteiligten.

Überhaupt liegt die Verantwortung für den inklusiven Erfolg ganz überwiegend auf der „Doppelbesetzung“ im Unterricht – auf dem Tandem Assistenzkräfte und Sonderpädagogen, und dem Zusammenspiel mit den Lehrern. Dann an dieser spielentscheidenden Stelle immer wieder die Bewilligung für dringend benötigte Stunden zu kürzen: Das ist kontraproduktiv.

Andere Vereine bestätigen unsere Erfahrungen. Sind das alles Einzelfälle? Bestimmt. Aber: Sie weisen auf grundsätzliche Gefahren des laufenden Inklusions-Prozesses hin. Diese Reform ist ehrgeizig. Sie braucht Zeit und Geld, um zu funktionieren. Als Sparmodell kann das nur scheitern. Das zeigt sich eben auch hier in Bremen, wo ja traditionell am Limit kalkuliert wird.

Autismus Bremen e.V. setzt sich dafür ein, zum Wohle aller Schüler/innen die Schulen nachhaltig auszustatten. Autismus muss auch zukünftig eine wichtige Rolle in der unterstützenden Pädagogik spielen, schon wegen der steigenden Fallzahlen. Der Nachteilsausgleich muss sichergestellt sein. Es muss einen Wissenstransfer zum Thema Autismus in die Schulen und dort zu Lehrer/innen und den Zentren für unterstützende Pädagogik (ZuP) geben. Wo immer Lehrer Kinder mit Förderbedarfen unterrichten, sollte Fortbildung in den jeweiligen Feldern obligatorisch sein. Wir erneuern unsere Forderung, Expertenteams für die Fördergebiete zu bilden und bieten unsere Mitarbeit an.

Keiner hat gesagt, Inklusion müsse ab Tag 1 funktionieren. Aber der Motor dieses Projekts stottert. Lehrer sind überfordert, weil die Ausstattung an ihren Schulen fehlt. Eltern sind unzufrieden, weil sie bei der Bildungsbehörde um Assistenzstunden betteln müssen. Kinder sind in Not, weil für sie oft die Versprechen der Inklusion bisher genau das bleiben – ein Versprechen.

Und die Bildungsbehörde: Die steuert nicht entschieden genug gegen ̶  gegen eine Dynamik, die schon früh in die falsche Richtung läuft. So sorgt Inklusion für Ärger, nicht nur bei uns. Irgendwann ist der breite Goodwill, mit dem dieses Projekt in Bremen gestartet ist, aufgebraucht. Die Dynamik nicht mehr korrigierbar. Irgendwann ist „Inklusion“ ein Schimpfwort geworden! Auf nichts anderes lässt die Entwicklung an der ein oder anderen Bremer Schule schon heute schließen. Dem müssen unbedingt Erfolgsfälle, Beispiele gelingender Inklusion entgegengesetzt werden!

Wir fordern von der Bremer Landesregierung, den begonnenen Prozess zu stabilisieren, bevor er kippt. Und ihn konsequenter, und entschiedener fortzusetzen, als das bisher geschieht. Damit er Schule für Schule zu einer Erfolgsgeschichte wird. Wir unterstützen Bremens Weg zur Inklusion, weil es keine Alternative gibt zu ihrem Ziel: einer lebenswerteren, gerechteren und menschenwürdigeren Gesellschaft.

Christian Schwalb (Vorstandsmitglied) für Autismus Bremen e.V.

Bremen, 28.02.2017